Finrie

Es begab sich zu der Zeit, in der die Drachen noch unangefochten über die junge Welt herrschten. Das Geräusch lederner Schwingen, durch metallisch-glänzende Hornschuppen gepanzert, wurde von den Bergen widerhallend zurückgeworfen, indessen in den warmen Gefilden Wassertropfen von den hoch aufragenden Baumriesen in die Sümpfe troff. Lange Zeit war verstrichen seit der Trennung von Gut und Böse und der Unterscheidung der Tiere in Pflanzen- und Fleischfresser, doch die noch immer junge Welt hatte schnell ihr Gleichgewicht gefunden: Weidetiere fraßen die Pflanzen und vermehrten sich reichlich, während Raubtiere sich an all diesem Überfluß bedienten. Werden und vergehen, geborenwerden und sterben, fressen und gefressen werden… die Welt war bis in den allerletzten Winkel durchdrungen davon.
Doch viele, viele Meilen weiter nördlich hing der Himmel voller Schnee und Frost knisterte in der Luft. An einem klaren, sonnendurchwirkten, froststarrenden Wintertage schritt Libanú ergriffen durch den verschneiten Winterwald und bewunderte die zerbrechliche Schönheit der Eiszapfen, die glitzernd in den Zweigen und Nadeln der Bäume hingen, funkelnd und schimmernd wie durchscheinende Edelsteine. In ihren Armen trug sie Ludias Zwillingskinder, Nugor und Cunna, beide noch im Säuglingsalter, und erzählte ihnen von der Pracht und Herrlichkeit der weißen Welt, die heute einem gleißenden Kristallpalast glich.
Auch die Wölfin Finrie strich durch jene tief verschneite Winterlandschaft, doch hatte sie nichts übrig für das Glitzern der Eiszapfen oder die makellosen Reinheit und Unberührtheit des Schnees, denn in ihren Eingeweiden nagte der Hunger und sie hatte noch sieben gleichfalls hungrige Welpenmägen zu stopfen. Groß war sie für eine Wölfin und gefürchtet unter ihresgleichen. Ein mächtiges Tier von unbändiger Kraft: Ihre Vorderpranken hinterliessen Spuren so groß wie die eines Bären, ihre Reisszähne fetzen ein Reh mit einem Biss in Stücke, ihr graues Fell so dicht wie das Moos des Waldes. Gewöhnlich hatte sie keine Schwierigkeiten, genug Beute aufzutreiben, doch dieser Winter war hart gewesen und dauerte nun schon allzulang, so daß Elch und Hirsch ins Tal gezogen waren und die Berge unter der drückenden Last von Firn und Harsch in tiefem Schlaf ruhten. Da trug der schneidend-kalte Wind ihren scharfen Ohren plötzlich ein leises Quärren zu, wie es manchmal von Tierjungen zu hören ist. Mit gespitzten Lauschern drückte sie ihren Bauch ganz flach in den eisig-pulvrigen Schnee und kroch langsam und vorsichtig näher durch das Unterholz auf jenes Geräusch zu, immer wieder verharrend und die Nase hoch in den Wind hebend, den Duft von weichem, jungen Fleisch witternd. Gierig leckte sie sich über die Lefzen, der Geifer troff in langen Fäden aus ihrem Maul, so verlockend war die Witterung. Beinahe lautlos schob sie sich näher und näher an die Quelle der Geräusche heran. Endlich: Kaum einen Wolfssprung von ihr entfernt, lagen zwei in warme Decken gehüllte Babys, gerade die rechte Größe hatten sie. Unwillkürlich sträubten sich Finries Nackenhaare und stellten sich auf. Vorsichtig blickte sie sich um: Libanù befand sich einige Schritte von den Kindern entfernt an einem zugefrorenen Fluß. Sie schien gerade damit beschäftigt, einen vom Eis eingeschlossenen Fisch zu befreien. Die Gelegenheit war so günstig wie nie. Wildheit glomm auf in Finries Lichtern. Mit einem gewaltigen Satz ihrer mächtigen Wolfstatzen stand sie über ihrer Beute – und erstarrte mitten in der Bewegung. Libanú hatte sich umgewandt. Der Blick der Göttin versengte das Tier heißer als tausend Sonnen. Erst in diesem Augenblick spürte die Wölfin, dass dieses zweibeinige Wesen dort am Fluss etwas Besonderes war. Dort am gefrorenen Wasser, so klein und so zierlich, dass Finries kräftige Pranken ein anderes Wesen dieser Gestalt mühelos ungeworfen hätten, kniete etwas, das die Instinkte der Wölfin nicht begreifen konnten, etwas so ungeheuer Mächtiges, mächtiger als Finrie, mächtiger als die Drachen, ja selbst mächtiger als der schneidende Wind oder gar der Winter selbst. Angst ergriff Finries ganzes Sein. In Panik wandte die Wölfin sich um und wollte davonlaufen, so schnell sie nur konnte, doch schlitterte sie mit dem linken Vorderlauf in eine Wurzelgabel. Knirschend splitterten Knochen und Sehnen zerrissen, die zerfaserten Enden der Knochen bohrten sich nach außen durch Haut und Fell. Hilflos, verstümmelt und somit dem Tode geweiht, stieß Finrie ein hohes, klagendes Heulen aus. Dem Wahnsinn nahe biss die Wölfin um sich, als sie sah, dass dieses ehrfurchtgebietende Wesen, dessen Kinder sie hatte rauben wollen, auf sie zuschritt, um sie zu berühren. Regenbogenfarbige Augen richteten sich voller Sanftmut und Güte auf die geschundene Kreatur. Da breitete sich Frieden in Finrie aus, als etwas von Libanús unverbrüchlicher Liebe und Gnade in ihr wildes Herz flossen. Behutsam strich die Mutter allen Lebens über Finries rauhes, gesträubtes Fell, befreite den gebrochenen Vorderlauf mit zarter Hand aus der Wurzelgabelung, ohne dass die Wölfin Schmerz verspürte. Wie von Zauberhand fügte sich Knochen zu Knochen und Sehne zu Sehne, der Bruch verheilte nahtlos in einem einzigen Augenblick, Fleisch und Pelz verschmolzen, ohne dass von der Wunde auch nur das kleinste Anzeichen zurückblieb. Eine Weile blieben sie noch beisammen stehen, die Blicke einträchtig in einander versenkt und sich instinktiv verstehend, ohne dass ein einziges gesprochenes Wort nötig gewesen wäre, dann trennten sie sich und Jedes ging seines Weges. Von diesem Tage an aber hörte Finrie auf zu altern. Sie wurde zur Mutter aller Wölfe und in den vielen Äonen, die noch kommen sollten, gewann sie an Weisheit und Einsicht, weit über jedes tierische Mass hinausgehend.

Der Wolfskult im Rollenspiel

Finrie, die von göttlicher Hand berührte Wölfin, ist weder gut noch böse. Sie ist ein Tier, welches ohne Ansehen von „gut“ oder „böse“ versucht, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen.
Die Wolflinge sind echten Wölfen nachempfunden: Wölfe leben in festen Rudeln. Geführt wird das Rudel von der Leitwölfin oder dem Leitwolf und nur diese beiden haben das Recht, Jungtiere in die Welt zu setzen. Wölfe sind Gemeinschaftstiere, das Rudel steht bei ihnen an allererster Stelle. Gemeinsam tragen sie Sorge dafür, dass das Rudel, dass jedes Mitglied des Rudels, insbesondere natürlich die Jungtiere, gedeihen. Von den Leittieren geführt, wird gemeinsam gejagt, gemeinsam geteilt. Schwache oder verletzte Mitglieder werdem vom Rudel versorgt und verteidigt. Ein Wolf, der sich gegen sein Rudel stellt, zum Einzelgänger wird, ist so gut wie verloren.
Wölfe sind relativ scheu. Sie greifen zumeist nur dann an, wenn sie jagen müssen und sich in der Übermacht fühlen, oder wenn man sie in die Enge treibt und sie um ihr Leben fürchten. So etwas wie „Blutdurst“ gibt es bei „normalen“ Wölfen ebensowenig wie bei „normalen“ Menschen, daher töten Wölfe nicht sinnlos.